(die Rede wurde gehalten in Göttingen am 13.Oktober 2019)
Mein Name ist Jessica und am Jom Kippur war ich in der Synagoge in Halle. Ich will etwas vorwegnehmen – dies ist das schwierigste was ich je schreiben musste, aber ich hoffe damit eine positive Wirkung zu hinterlassen.
Zuerst möchte ich einen Moment nehmen und an die Menschen gedenken, die an dem Tag ihr Leben verloren.
Jana Lange: eine mutige Frau, die den Täter außerhalb der Synagoge konfrontierte. Sie war ein großer Musikfan besuchte viele Konzerte und sammelte Autogramme.
Kevin S.: war nur 20 Jahre alt. Er machte seine Mittagspause in einem Dönerrestaurant. Er war Maler bei einer Baustelle und Fan von Hallescher FC.
Mein herzliches Beileid richte ich ihrer Familien und Angehörigen und hoffe, dass die Seelen von Jana Lange und Kevin S. in Frieden ruhen. Sie werden nie vergessen sein. Möge ihr Andenken ein Segen sein.
Es fällt mir immer noch schwer das ganze aufzuarbeiten, wie ihr euch vorstellen könnt. Meine Gedanken sind durcheinander. Auf dem Rückweg nach Göttingen am nächsten Tag, dachte ich zu mir “Beinahe wäre ich von einem Neo-Nazi getöttet. In einer Synagoge, während ich am heiligsten Tag des jüdischen Kalenders betete. In Deutschland.” Egal wie oft ich das im Kopf umformuliere, es macht für mich keinen Sinn.
Es ist leider keine erste antisemitische Attacke dieses Jahr. In den letzten wenigen Jahren beobachten wir ein schreckliches globales Wiederaufleben mit steigenden Fallzahlen. Lass uns aber erstmal auf Deutschland fokussieren. Erst vor einer Woche versuchte ein Mann mit einem Messer eine Berliner Synagoge zu stürmen und wurde, aus Gründen die für mich unverständlich bleiben, später von der Verwaltung freigelassen. Ein kippatragender Mann mit dem Magen David wurde im Juli in Potsdam von zwei syrischen Bürger angegriffen. Im selben Monat wurde ein Rabbiner in Berlin beschimpft und angespuckt. Ein Jahr davor wurde ein 21-jähriger arabischer Israeli geschlagen, weil er Kippa trug.
Lass uns auch eingestehen, dass viele unwissende Menschen Respektlosigkeit dem Holocaust Denkmal Berlin zeigen, indem sie lächlende Selfie aufnehmen und auf die Steine springen, was mir jedes mal aufs Neue das Herz bricht, wenn ich an dem Ort vorbei gehe. Natürlich hat dies eher eine indirekte Wirkung, jedoch ist das dem größeren gesellschaftlichen Problem symptomatisch.
Der Attentäter wollte Angst verbreiten, die Menschen auseinander bringen und weitere Attacke inspirieren, aber wir kommen und stehen stark zusammen und stellen sicher, dass sowas nie wieder passiert. Ich weiß, es klingt nach einem Cliché aber bitte LIEBT EINANDER. Wenn jemand ein anderes Glauben hat, aus einer anderen Kultur herkommt, unterschiedliche Interesse hat – holt euch ein Bier und lernt was neues. Diskutiert. Entwickelt euch. Sprecht einfach darüber. Am Ende des Tages sind wir alle Menschen, die sich ein gemütliches Leben wünschen und ihre Ziele erreichen möchten. Wir müssen uns viel mehr Mühe geben, um eine tolerante friedliche Welt zu erschaffen (besonders in diesen verrückten Zeiten), und die Tatsache, dass ihr alle heute hier seid, sagt viel aus – es ist ein Zeichen der Hoffnung und des Fortschritts – und von ganzem Herzen möchte ich fürs Kommen danke sagen.
Wenn ihr etwas tun und helfen wollt, schickt Briefe an jüdische Gemeinden und zeigt ihnen, dass ihr ihnen beisteht. Liebt einander (unabhängig von dem Hintergrund). Wenn ihr euch mutig füllt, setzt euch ein, wenn ein Hassverbrechen vor euren Augen passiert. Besucht Jüdische Museen, bildet euch, informiert euch darüber wie wir so sind. Von Sephardi zu Mizrahi, von Ashkenazi zu Beta Israel… wir sind eine diverse Gruppe von Menschen mit einer reichen Geschichte, wir sind aber mit derselben Tora verbunden. Seid informiert. Make racists afraid again! Macht den Rassisten wieder Angst!
Jüdisches Leben muss in Europa weiter gedeihen! Zu meinen jüdischen und nichtjüdischen Freund*innen – kommt zum Schabbat. Habt keine Angst, in die Synagoge zu gehen. Ich weiß, es ist schwer, aber wir können nicht zulassen, dass diejenigen, die uns zerstören wollen, gewinnen. Ich bin stolz darauf, Jüdin zu sein und werde es niemals verbergen. Nicht nach allem, was meine Vorfahren erlebt hatten. Nicht nach allem, was ich erlebt habe. Niemals. Wir sind ein Wunder.
G’tt sei Dank für die Waffenkontrolle in Deutschland, aber jetzt mehr als sonst brauchen die Synagogen bessere Sicherheit. An unserem ersten Tag in Halle hat unsere Gruppe die Gemeindeleitung gefragt, wieso es keine Polizist*nnen draußen gab. Sie haben uns gesagt, Halle sei in Ordnung. Halle sei sicher genug. Und wenn man bedenkt, dass es 15 bis 20 Minuten gebraucht hat bis die Polizei gekommen ist, wird es offenbar, dass der Sicherheitsmängel und die Reaktionszeit ein systemisches Fehler sind.
G’tt sein Dank, wir wurden nur durch ein Wunder gerettet – eine Tür, die trotz mehrfachen Schussen geschlossen geblieben war. Dank dieser Tür (und dem Sicherheitsbeauftragten der die Situation über die Sicherheitskamera beobachtete) wurde keiner von uns getötet. Dank dieser Tür stehe ich heute hier und halte diese Rede.
Uns war immer noch nicht bewusst, was da passierte (einschließlich des Tods von zwei Menschen). Wir waren alle nur dankbar, am Leben zu sein. Nachdem die Polizei angekommen war, gingen wir zurück nach unten und setzten den Gebetsdienst fort. Wir sangen mit mehr Leidenschaft als zuvor und irgendwann wandte sich eine Frau an meine Freundin und sagte: „Deshalb wird das jüdische Volk für immer leben.“ Immer noch ahnungslos, wurden wir ins Krankenhaus evakuiert. Im Bus sangen wir „Am Yisrael Chai“ oder „Das jüdische Volk lebt“, wir wussten sonst nicht was zu tun. Wir wussten nur, dass es die einzige Möglichkeit ist, die Stimmung aller aufrechtzuerhalten und etwas Licht in diese dunkle Zeit zu bringen, um fortzufahren – durchzuhalten und das Trauma/die Verwirrung zu verarbeiten.
Singend und tanzend beendeten wir das Gebet schon im Krankenhaus, das Personal klatschte mit. Einer der Leiter*innen aus der Gruppe, mit der ich nach Halle gekommen war, Rabbiner Borovitz, sagte, es sei unsere Entscheidung, wann das Gebet abzuschließen ist – diejenigen, die uns zerstören wollten, ließen wir nicht gewinnen. Wenn ich darauf zurückblicke, war dieser Moment ein Symbol für jüdische Beharrlichkeit, etwas was generell seit Jahrtausenden gilt.
Zum Schluss möchte ich mit euch ein Zitat aus dem Lied „One Day“ des jüdisch-amerikanischen Künstlers Matisyahu teilen, der Sänger ist ebenfalls vom Antisemitismus betroffen: „Mein ganzes Leben lang habe ich darauf gewartet, ich habe dafür gebetet, dass die Menschen sagen, dass sie nicht mehr kämpfen wollen, dass es keine Kriege mehr geben wird und dass unsere Kinder spielen werden. Eines Tages. Eines Tages. Eines Tages.”
Möge dieser Tag sehr bald kommen. Ich weiß nicht wie, aber ich habe Hoffnung und glaube, dass dieser Tag kommt.
Danke fürs Zuhören.