Mit Beginn des Prozesses gegen den Halle-Attentäter wird nicht nur seine Ideologie der ‘White Supremacy’ zerlegt, sondern auch die gesamte deutsche Gesellschaft sowie der systematische Rassismus im Gerichtssaal.
Die Antworten des Angeklagten werden umschrieben, um zu vermeiden, dass der Rassismus, den dieser Artikel in Frage stellen will, besteht.
Dienstag, 21. Juli 2020 markiert den ersten Tag des Prozesses gegen den grauenhaften Angriff in Halle, der sich gegen Angehörige von Minderheiten richtete, wie auch viele Menschen gebrandmarkt hat und zwei unschuldigen Menschen das Leben kostete. Das Verfahren beginnt. Der Generalstaatsanwalt liest die Anklage vor, der Angeklagte macht von seinem Recht Gebrauch, eine Erklärung abzugeben. Ein Hin und Her zwischen der Richterin und dem Angeklagten wird in Gang gesetzt – was an diesem Punkt dem freien Sprechen des Angeklagten vorzuziehen ist. Die Befragung durch die Richterin liefert einen Rahmen, der es dem Angeklagten vermutlich nicht erlauben würde, seine Hassideologie vor einem breiteren Publikum zu präsentieren – sowohl gegenüber denen, die physisch im Gerichtssaal anwesend sind, wie auch vor einem Online Publikum.
Richterin M. setzt dem Angeklagten frühzeitig Grenzen, als er abwertende Begriffe verwendete, während er die Jahre vor dem Angriff und seine Entwicklung beschrieb:
Der Angeklagte erklärt, wie er beschlossen hat, nichts für die Gesellschaft zu tun, zu der er gehört, und zeigt seinen Hass gegenüber Minderheiten und verwendet dabei Schimpfwörter.
Richterin M.: „Ich möchte an der Stelle folgendes sagen, ich möchte im Saal keine Beschimpfungen von Menschen und bestimmten Bevölkerungsgruppen hören.
Und wenn Sie Beschimpfungen machen wollen, das haben Ihre Rechtsanwälte Ihnen sicher erklärt, habe ich die Möglichkeit Sie auszuschließen. Ich will das nicht, aber ich werde das tun.“
Würde man es dabei belassen, könnte man sagen, dass es Richterin Mertens anscheinend gelungen ist mit der Situation umzugehen. Wäre es nur möglich. Aber der Diskurs zwischen der Richterin und dem Angeklagten ging weiter. Und langsam aber sicher gerieten genau die Menschen, die ihrem Beruf gemäß die Gerechtigkeit und Moralität verteidigen sollten, bestenfalls in ein wackelnden Verständnis dieser Mission, wenn nicht sogar in die Rechtfertigung für rassistischen Gedanken.
Der Angeklagte argumentiert, sein Begriff sei dem Thema angemessen.
Richterin M.: „Es geht nicht darum ein bestimmtes Wort zu verwenden, sondern, ob Wörter in einem beleidigenden Kontext verwendet werden
Und das ist etwas in einem menschenverachtend Kontext. Diese menschenverachtenden Äußerungen möchte ich die hier nicht hören. Wenn Sie die hier tätigen wollen, dann müssen wir überlegen, ob wir sie von der Verhandlung ausschließen. “
Es geht nicht darum, ein bestimmtes Wort zu verwenden. Während der Begriff, den der Angeklagte für PoCs (people of color) verwendete, im herausragenden deutschen Wörterbuch Duden als „hochdiskriminierender Begriff“ (duden.de) angesehen wird, scheint sich das deutsche Rechtssystem zu widersetzen. Im Laufe der Jahre haben sie Agitator*innen immer wieder entkommen lassen: Ende 2018 verwendete der Chef der AfD-Fraktion im Landtag Mecklenburg-Vorpommern genau denselben Begriff im Landesparlament. Der Agitator versuchte seine Wortwahl zu rechtfertigen und sagte:
„Dann komme ich mal zu einer ganz grundsätzlichen Sache. Das Wort ___ habe ich bewusst gewählt, weil ich mir eben nicht vorschreiben lasse, was hier Schimpfwort sei oder was nicht.”
Nach einer Aufforderung zur Ordnung wurde der Fall dem Verfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern übergeben. Das Gericht entschied, dass die bloße Verwendung des Wortes generell nicht als Verstoß gegen die Würde des Landtages bestraft werden solle. Ob es abwertend gemeint ist, konnte “nur anhand des Kontextes beurteilt werden”. Laut dem Urteil sei dies nicht der Fall, wenn es ironisch oder beim Zitieren verwendet wird oder wenn “das Wort und seine Verwendbarkeit” diskutiert wird. Schließlich entschied das Verfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern, dass dies auch im Fall des AfD-Abgeordneten gelte, der eine parlamentarische Diskussion über materielle Unterstützung für Asylbewerber*innen durch Einwerfen des Schimpfwortes unterbrach.
Ausschluss des Angeklagten. Während Richterin M. tatsächlich gedroht hat, den Angeklagten von der Verhandlung auszuschließen, griff sie nie wieder ein, als er weitere abwertende Begriffe verwendete. Obwohl der Angeklagte, ohne Zweifel, eine bestimmte Terminologie verwendet hat, um sein Boshaftigkeit und seinen Hass gegenüber bestimmten Gruppen von Menschen auszudrücken:
Richterin M.: Sie sagen, sie sind mal dumm angemacht worden?
Der Angeklagte erinnert sich an den Tag vor dem Verbrechen und verwendet erneut einen rassistischen Begriff.
Die Wortwahl des Angeklagten ist von der Richterin nicht unbemerkt geblieben, sie paraphrasiert die Antwort des Angeklagten. Sie verurteilt ihn jedoch nicht wegen seiner Wortwahl. Weder hier noch in folgenden Fällen:
Anwalt P.: Sie könnten Ausländer oder andere Wörter sagen
Der Angeklagte räumt ein, dass nicht alle Menschen aus anderen Ländern als [Schimpfwort] anzusehen sind.
Das oben erwähnte Mecklenburg-Vorpommern-Urteil sowie der Verlauf der Befragung in dem laufenden Prozess sind nur zwei von unzähligen Beispielen, die die Unsensibilität und den zugrunde liegenden Rassismus des deutschen Rechtssystems offenbaren.
Rechts- und wahrheitsgemäße Darstellung. Während die von den Rechtsstrukturen genutzte Argumentation lautet, dass die Beweise und Zeugnisse möglichst rechtmäßig und wahrheitsgemäß vorgelegt werden müssen, um einen Fall anzuhören, gehen sie mit der Sprache des Angeklagten mit. Sie arbeiten seine Sprache ein, anstatt sich bewusst zu distanzieren.
Immerhin geht es in diesem Prozess genau darum. Den Hass, der zur Tötung von zwei unschuldigen Menschen führte, zu der Verletzung und dem Mordversuch an 68 Personen, von denen die meisten Teil von Minderheiten waren, zu offenbaren.
Bloßlegen, was schief gelaufen ist und was diese Grausamkeit zugelassen hat. Aus diesem Grund hat das Gericht Polizeibeamte und Sachverständige, Grundschullehrer*innen des Angeklagten, einen ehemaligen Bundeswehr-Mitbewohner, Verwandten und Bekannten beiseite gerufen. Das Offenbaren dessen, was zu diesem Schrecken geführt hat, fordert das Gericht auf, sich bewusst um die Wahrung seiner Integrität zu bemühen. Und es fordert die Anwält*innen der Nebenkläger*innen auf, die Überzeugungen des Angeklagten nicht zu begehen.
Wenn man den Diskurs zwischen einigen Anwält*innen der Nebenkläger*innenm sowie zwischen Richterin M. und dem Angeklagten anhört, fragt man sich, ob sie zu eifrig waren (und immer noch sind), in die Gedanken des Angeklagten einzutauchen, oder sogar ob die gewählte Fragestellung einen Einblick in die persönlichen Überzeugungen der Anwält*innen und der Richterin bietet:
Rechtsanwalt H.: Sie haben gestern gesagt,es sei einer der größten Fehler, dass alle Menschen gleich sind.
[…]
Rechtsanwalt H.: Wer ist das, die weiße Rasse?
[…]
Rechtsanwalt H.: Bin ich ein weißer Mann, bin ich ein Jude? Ich habe wahrscheinlich die deutscheste Ahnenreihe in diesem Gerichtssaal.
Rechtsanwalt H.: Sie haben versagt, weil sie Weisse erschossen haben, haben sie nicht auch ihre Heimat beschädigt?
[…]
Richterin M.: Finden Sie wirklich, dass Sie deutsch aussehen, dass Sie weiß aussehen?
Der Angeklagte bejaht
Richterin M.: Da gibt es ja eine Wissenschaft dazu, ich würde das bezweifeln.
Wie kann ein Anwalt, der einen Betroffen eines Hassverbrechens vertritt, welches sich gegen Minderheiten richtete, sich der rassistischen Sprache von (Neo-)Nazis bedienen? Wie kann er äußern, dass der Angeklagte versagt hat, indem er weiße Menschen erschossen hat? Ist das Leben von PoCs, Migrant*innen, Muslim*innen und Jud*innen in seinen Augen etwa weniger wert?
Und wie kann eine vorsitzende Richterin den Angeklagten fragen: „Glauben Sie wirklich, Sie sehen deutsch aus?“ Und auf „die Wissenschaft davon“ verweisen? Ist ihr, Richterin M., bewusst, dass sie sich auf die Rassenkunde bezieht?
Soziale Dynamiken, die die Meinung der Menschen beeinflusst. Der Sozialpsychologe Solomon Asch führte 1951 eines der bekanntesten psychologischen Experimente durch, um festzustellen, inwieweit soziale Kräfte die Meinung der Menschen beeinflussen können. Asch war auch daran interessiert, ob die Größe der Mehrheit und nicht die Einstimmigkeit die eigenen Überzeugungen eher beeinflussen würde. Die Studienergebnisse legen nahe, dass der Konformitätsbedarf umso größer ist, je größer die Gruppe ist. Darüber hinaus wird laut dem Asch-Experiment die Notwendigkeit der Anpassung auch von dem Gefühl getrieben, dass die anderen Anwesenden vermutlich kenntnisreicher oder besser informiert sind.
Ist dies das zugrunde liegende Prinzip, das es der Befragung des Angeklagten ermöglicht hat, so außer Kontrolle zu geraten?
Rechtsanwalt S.: Wir haben ja heute einen Exkurs gemacht durch Ethnien und verschiedene Hautfarben, eine haben wir vergessen, […]Gelb haben sie vergessen, Sie sprachen über Japaner.
Aufgrund seiner Antwort ist klar, dass der Angeklagte in der getätigten Äußerung keine Frage erkennen kann.
[…]
Bemerkung der Nebenkläger*in H.: Könnte das Gericht darauf achten, dass jegliche Begrifflichkeiten und Beleidigungen (listet die bisher verwendete abwertende Begriffe auf) unterbunden werden können? Weder vom Angeklagten noch von den Anwält*innen?
Richterin M.: Sie können sicher sein, dass kein Organ der Rechtspflege diesen Sprachgebrauch pflegt, aber wir müssen hier Sachaufklärung betreiben und ich bemühe mich, dies nicht zuzulassen
Die Antwort von Richterin M. auf die Bemerkung der Nebenkläger*in zeigt, dass Sie nicht über ihre eigenen Aussagen sowie das, was in ihrem Gerichtssaal geschieht, reflektiert. Hat sie etwa all die von dem Angeklagten Schimpfwörter verpasst? Genauso wie die Terminologie, welche von einigen Vertreter*innen der Nebenkläger*innen genutzt wird? Oder hat sie es absichtlich ignoriert oder – noch schlimmer – es als harmlos abgestempelt?
Die derzeitige Entwicklung ist erschreckend, da sie die Verwendung von der Terminologie und den Gedanken normalisiert, die mit der Ideologie und den Handlungen des Täters verbunden sind.
Den Angeklagten diskreditieren – die Betroffenen nicht respektieren. Während der Angeklagte wegen seiner Handlungen vor Gericht steht, versuchen einige der Anwält*innen aus der Nebenklage sowie Richterin M., den tief verwurzelten Hass des Täters bloßzustellen. Es bleibt aber unklar welchen Aspekt seines Hasses noch bloßzustellen ist. Was ist da noch bloßzustellen, wenn der Angeklagte seine Pläne einem öffentlichen Publikum mitteilte und das Verbrechen zugab? Offen wiederholt er seine antisemitischen, rassistischen Weltanschauungen, wenn immer er gefragt wird. Richterin M. versucht wiederum aufzudecken, wie sehr der Angeklagte sich nicht nur in seiner Weltanschauung, sondern auch in seiner Selbstwahrnehmung irrt. Und während sie versucht, den Angeklagten von seinem hohen Ross herunterzuhollen, zeigt sie auch einen Mangel an Sensibilität gegenüber den Betroffenen, indem sie den Angeklagten verhöhnt:
Richterin M.: Sie haben also beschlossen, nichts für die Gesellschaft zu tun, aber Sie haben auch beschlossen, nichts für sich selbst zu tun
[…]
Richterin M.: Also ich sage mal, für einen außenstehenden Dritten, der jemanden erzählt, dass ein Mann mit 30 Jahren immer noch bei der Mutter im Kinderzimmer wohnt, würde man sagen, dass der nicht viel wert auf Lebensaualitot legt. Ich schließe immer von mir auf andere.
Angeklagter lacht
Ein Diskurs zwischen der Richterin und dem Angeklagten zu einem späteren Zeitpunkt:
Richterin M.: Wissen Sie, dass Startrek den Vorgänger des 3D-Druckers hatte?
Der Angeklagte erkennt diese Tatsache an und betont, dass die Qualität solcher Drucker unterdurchschnittlich war.
Richterin M.: Ja, das gilt auch für Sie.
Der Mann auf der Anklagebank nahm zwei unschuldigen Personen das Leben, während er versuchte, viele weitere zu töten. Er hat das Leben vieler Menschen physisch und emotional beeinträchtigt.
Die Anwält*innen der Nebenkläger*innen sowie das Gericht müssen selbstreflektierter agieren: Vorkommnisse wie die dargelegten beeinträchtigen nicht nur die Moral eines Rechtssystems, sondern auch jeden weiteren Prozess, wie auch Urteilsfindungen. Was sich hier zugetragen hat, ist höchstwahrscheinlich keine Ausnahme. Dies ist nicht der einzige Prozess, in dem rassistische Kommentare sowohl von Anwält*innen, als auch von dem Gericht gemacht werden – der Unterschied zu anderen Fällen besteht nur darin, dass endlich jemand darauf achtet und es beim Namen nennt. In der Hoffnung auf Veränderung und Streben nach wirklicher Gerechtigkeit.