בס”ד

Wir sind heute hier, weil wir den Terror erlebt haben, der sich gegen vermeintlich “Andere” richtet – gegen Juden, gegen Frauen, Migranten, Muslime, People of Colour und gegen all jene, die nicht in ein Weltbild passen, das von Hass dominiert wird.

Dieses Ereignis. Dieses Ereignis hat in jedem von uns etwas zerbrochen – aber nicht nur in uns, sondern auch innerhalb unserer Familien und Freunden, unserer Communities und in unserer Gesellschaft insgesamt.

Wir haben am eigenen Leib erfahren, dass Hass nicht WEIT von uns entfernt ist. Dass er nicht außerhalb unserer Reichweite ist. Nein. Er kann uns alle treffen, verletzen und sogar töten. Nein – es kann alle von uns treffen, wenn wir nicht die Verwundbarsten und Minderheiten unserer Gesellschaft stärken und schützen.

Was an jenem Tag, an dem 9. Oktober 2019, zerbrach, sind nicht nur Biografien einzelner – sondern unsere Gesellschaft. Es ist unsere Gesellschaft, die wie durch ein Erdbeben erschüttert worden ist und plötzlich weit aufbrach.

WIEDER.

Täuscht Euch nicht – dies ist nicht das erste Mal, dass dies passiert ist. Und mit großer Besorgnis muss ich sagen, dass es wohl auch nicht das letzte Mal war. Vielmehr steht die Tragödie von Halle in einer langen Kette von tödlichen Ereignissen, die durch Hass geschürt wurden. Ich möchte uns alle daran erinnern, dass dies kein Einzelfall ist, sondern vielmehr ein Beispiel für die Kontinuität, die dieses Land überschattet hat – und immer noch überschattet:  

Von Amadeu António Kiowa, der 1990 als einer der ersten im wiedervereinigten Deutschland sein Leben verlor, weil eine Gruppe junger Neonazis Lust hatte, “Fremde zu verprügeln”, über die NSU-Terroranschläge und Morde Anfang der 2000er Jahre, den Anschlag auf das Münchner Einkaufszentrum 2016, die Ermordung des Politikers Walter Lübcke 2019 bis zu dem Anschlag in Hanau Anfang dieses Jahres.

Kassel

Halle

Hanau

DAS MUSS AUFHÖREN. Innerhalb von weniger als 8 Monaten fanden 3 grauenhafte Anschläge statt und mit der NSU 2.0 ist vielleicht ein weiterer auf dem Weg – alle getrieben von einer weißen rassistischen Weltsicht.

Und mit jeder Behauptung, dass der vorliegende Anschlag von einzelnen Akteuren begangen worden sei, die unabhängig und losgelöst von der Gesellschaft handeln, mit jeder Äußerung, der Anschlag sei von einem “einsamen Wolf” ausgeführt worden, von jemandem, der mit dem Leben hadert und keinen anderen Weg findet, als grausame Gewalttaten gegen den vermeintlich “Anderen” zu begehen, werden diese Risse immer größer und größer. Ich möchte euch zurufen: Empört euch! – Engagiert euch! 

Die Risse und die Erdbebengefahr werden immer größer und größer, weil wir als Gesellschaft die Augen davor verschließen, was zu diesen Ereignissen geführt hat. Das Versagen unseres Bildungssystems, der Sozialämter, der Rechtsdurchsetzung, von uns – von uns als Gesellschaft. Unser System versagt. 

Und deshalb müssen wir uns erneut mit den Fragen auseinandersetzen:

Wie konnte es denn zu diesem Ereignis kommen? Wie war dieses Ereignis überhaupt möglich?

Und während wir vor Gericht auf der Suche nach Gerechtigkeit sind, blicken wir in einen Abgrund – einen Abgrund, der dunkel ist und tief reicht. Einen Abgrund, der von Hass und Feindseligkeit erfüllt ist. Hass und Feindseligkeit gegenüber jeder Form und Ausdruck von Vielfalt.

Dies ist  furchteinflößend. Und es ist abschreckend,, in das Gesicht dieser Finsternis zu blicken.

ABER – und ich sage das nicht mit Leichtigkeit – wir haben eine Wahl:

Wir können dieser Herrschaft der Angst und des Terrors nachgeben, sie unser Leben diktieren und weitere Spaltungen und Brüche verursachen lassen – unter uns Betroffenen, in unseren Communities, aber auch innerhalb der deutschen Gesellschaft.

ODER

Wir können einen Schritt aus diesem Ort der Finsternis heraus machen.

Wir können einen Schritt aus diesem Ort der Finsternis herausgehen und Licht werfen um eine bessere Zukunft anzustreben. Wir können Licht auf das Versagen unserer Institutionen, unserer Regierungsvertreter, auf uns als Gesellschaft werfen. Aber auch auf jeden*r Einzelnen*nen von uns und  Vorurteile und das Stigma, dass wir in uns tragen genauer beleuchten. 

Ich möchte, dass dies eine tiefgreifende Veränderung zum Besseren wird. Für eine gerechtere und inklusive Gesellschaft.

Ich möchte kein weiteres Kassel sehen. 

Ich will nicht noch ein Halle sehen. 

Ich will nicht noch ein Hanau sehen. 

E S    R E I C H T.

Doch der Weg, der zu diesem Wandel führt, ist – und wird – schmerzhaft sein. Er wird herausfordernd sein. Wir werden auf dem Weg auf Hindernisse stoßen, und zwar von denen, die versuchen, uns zu entmutigen. Von denen, die uns sagen, dass wir hier keinen Platz haben, von denen, die uns sagen, dass wir nicht hierher gehören und die alle Misserfolge in ihrem Leben allen anderen außer sich selbst zuschreiben.

In der jüdischen Tradition gibt es ein Sprichwort, das besagt: “Die ganze Welt ist (wie) eine schmale Brücke, aber das Wichtigste ist, überhaupt keine Angst zu haben”.

Wie kommt man nun an diesen Punkt, an dem man keine Angst hat? Ich bin der festen Überzeugung, dass dies ein Ziel ist, das wir anstreben müssen, und dass wir nicht ohne ein Gemeinschaftsgefühl dorthin gelangen können. In einer Welt, in der sich immer mehr Gräben auftun, müssen wir Brücken bauen. Wir müssen die Hand ausstrecken.

Aus diesem Grund bin ich heute hier: Ich strecke meine Hand zu Euch aus. Ich reiche Euch, den Betroffenen, meine Hand. Ich erkenne Euren Schmerz an und ich nehme ihn wahr. Euren Unmut und Eure Frustration darüber, dass Eure Stimmen nicht gehört werden. Ich bin heute hier, weil ich Euch höre. Und ich weiß, dass wir nur dann eine Chance auf eine bessere Zukunft haben, wenn wir uns gegenseitig Raum geben und zusammenstehen. 

Das möchte ich Ihnen sagen: ICH STEHE HINTER EUCH. 

An meine Mitbürgerinnen und Mitbürger – ich reiche Euch die Hand, denn dieser Kampf betrifft nicht nur Minderheiten. Nein – er betrifft uns alle und Euch alle. Die Geschichte hat uns die schmerzhafte Lektion gelehrt, was passiert, wenn wir einfach tatenlos zusehen. 

Als jemand, die Familie durch die Hand dieser Nation verloren hat und die dieses Land selbst verlassen hat – ich bin heute hier, um Euch zu sagen, dass ich diesen Ort nicht aufgeben möchte. 

Das ist genau das, was die Täter und Gleichgesinnten wollen – dass wir aufgeben. Dass wir in Terror und Angst leben. Dass wir gehen. 

Aber wir geben nicht nach. Wir sind hier, um zu bleiben. Und um uns Gehör zu verschaffen. 

Wir sind hier um aufzustehen und  auf eine gerechtere und inklusive Gesellschaft hinzuarbeiten. 

Und ich fordere Euch auf – jeden Einzelnen von Euch, dieses Streben gemeinsam mit uns zu verfolgen.