„Wer das Vermögen hat, wirksam das sündige Verhalten seiner Hausangehörigen zu wehren, und dies unterlässt, wird für die Sünden seiner Hausangehörigen festgesetzt und bestraft. Wenn er in der Lage ist, das sündige Verhalten der Menschen seiner Stadt zu wehren, und dies unterlässt, wird er für die Sünden der Menschen seiner Stadt festgesetzt. Wenn er in der Lage ist, das sündige Verhalten der ganzen Welt zu wehren, und dies unterlässt, wird er für die Sünden der ganzen Welt festgesetzt.“ (Übersetzung von der englischen Talmud-Übersetzung)
Babylonischer Talmud, Sabbat 54b
Der 21. Juli 2020 ist der Tag, an dem sich ein neuer Pfad zur Gerechtigkeit in Deutschland eröffnen sollte. Dieses Land stellt einen Verfechter der weißen Vorherrschaft vor Gericht, einen Mann, der eindeutig Antisemitismus, Rassismus und Misogynie offenbart hat, einen Mann, der versucht hat, Jüd*innen zu töten an ihrem heiligsten Tag, an Jom Kippur, der versucht hat, mich und meine Familie zu töten, der versucht hat, Mitglieder meiner Gemeinde und anderer Minderheiten zu töten. Es handelt sich um einen Mann, der aus reinem Hass gegen Minderheiten gezielt die Menschen in einer Synagoge und in einem Döner-Restaurant angegriffen hat – und der mit seiner Botschaftstat scheiterte, aber sein Ziel des Mordens erreichte und zwei Menschen, Jana L. und Kevin S., tötete. Dieses Geschehen ist eine Schande für das Land Sachsen-Anhalt, wo es sich zutrugt, und es ist eine Schande für dieses Land.
Heute rufen wir unsere Freund*innen, Nachbar*innen und Mitbürger*innen in der deutschen Gesellschaft auf, Eure Stimmen zu erheben. Der Talmud, unser rechtlicher und philosophischer jüdischer Grundlagentext, ruft jeden von uns auf, gegen „sündhaftes Verhalten“ zu protestieren, wo immer es uns möglich ist. Wenn wir die Möglichkeit haben, Einfluss zu nehmen, und diese Möglichkeit verspielen, sind auch wir für die Fortführung sündigen Verhaltens verantwortlich.
Es steht außer Frage, dass Antisemitismus, Rassismus und ähnliche Formen von Hass und Vorurteilen solch ein sündhaftes Verhalten darstellen; es steht außer Frage, dass der angeklagte Täter sich diese hasserfüllten Ideologien zu eigen gemacht hat und danach handelte. Wir als kollektive Gesellschaft haben noch so ungeheuer viel Arbeit zu leisten, um uns von diesen Ideologien zu befreien, um sie vollständig aus unserer Mitte zu verbannen, wo auch immer sie zu finden sind: in unseren Haushalten, in unseren Städten, in der Welt.
Mit dem Beginn des Prozesses gegen diesen Täter sind wir mit einem Moment konfrontiert, in dem sich uns eine gewaltige Gelegenheit bietet, vereint zusammenzustehen, auf der Grundlage der Prinzipien der Gerechtigkeit. Wir müssen diesem Täter gemeinsam entgegenstehen und die Geschichten seiner Opfer in den Vordergrund rücken. Wir müssen Zeugnis ablegen, wie tödlich hasserfüllte Ideologie ist. Und wir sollten unsere Politiker*innen, Minister*innen, Polizist*innen und alle, die dem Aufbau einer gerechten und gleichberechtigten Gesellschaft in Deutschland verpflichtet sind, inständig bitten, das Verfahren nicht als letzten Schritt in dieser Entwicklung zu betrachten.
Dieser Moment sollte uns daran erinnern, dass noch viel Arbeit vor uns liegt – und dass der Charakter dieser Arbeit über die symbolische Unterstützung für die jüdische Community und die Communities von Minderheiten hinausgehen muss. Wir sollten uns für einen echten Wandel innerhalb unserer Verwaltungsstrukturen einsetzen. Wir sollten die Schaffung von Bildungsplattformen und Interessenvertretungen fördern, die sich gezielt an Menschen in Machtpositionen richten, damit diese ihrerseits eine gerechtere Gesellschaft schaffen können. Wir sollten uns bewusst sein, dass ein solcher Moment eine Gelegenheit für einen wirklichen systemischen Wandel ist; mit anderen Worten, eine Gelegenheit für wirksamen Protest. Lasst uns diese Chance nicht verspielen.